Walking, 1983

Walking, 1984, Martin  Disler

Nachdem Martin Disler in den 1970er Jahren vor allem als Zeichner in Erscheinung tritt, präsentiert er sich in der Ausstellung Invasion durch eine falsche Sprache im Frühjahr 1980 in der Kunsthalle Basel erstmals als Maler. Unter dem suggestiven Titel, der die Wichtigkeit der Sprache für sein bildnerisches Schaffen unterstreicht, zeigt der Künstler eine überdimensionierte mehrteilige Bilder-Installation. Die freien, bisweilen heftig wirkenden Malereien stellen eindeutig eine Fortsetzung der zuvor im zeichnerischen Werk entwickelten Bildformulierungen dar. In der „Übertragung" der zeichenhaften Figurationen auf das grössere Format und das neue Medium verstärkt sich der körperlich-gestische Aspekt. Diese Tendenz manifestiert sich auch im extremen Querformat Walking aus dem Jahr 1983. Walking ist mit zeichnungstypischen Materialien wie Tusche, Fettkreide und Kohle, aber auch mit Acrylfarbe gemalt. Der Bildträger ist eine riesige Papierbahn, die auf konservatorischen Gründen nach dem Ankauf durch die Stiftung auf Leinwand aufgezogen wird. Spröde Linien, mit roter und schwarzer Kreide angebracht, werden hinterfangen und überlagert von flächigeren, mit Pinsel oder von blosser Hand aufgetragenen Partien in Acrylfarbe. Was zunächst wie ein heilloses Durcheinander von Linien und Flächen in vornehmlich düsteren Schattierungen wirkt, offenbart sich bei genauer Betrachtung als eindringliches Bild mit spezifischer Rhythmik und Dynamik. Wie so oft im Werk von Martin Disler sind auch in Walking Strukturen zu erkennen, die den Titel ganz konkret einzulösen vermögen: Hier sind es die schwarz gemalten Formen in der unteren Bildhälfte, welche die Assoziation mit Schuhen und Stiefeln, und demnach mit dem Sich-Fortbewegen von menschlichen Figuren sowohl in Leserichtung von links nach rechts wie auch umgekehrt zulassen. 1994 erinnert sich der Künstler anscheinend ganz deutlich an die Umstände der Entstehung dieses Bildes: „Ich ging auf dem Broadway durch die Menge. Manchmal trug eine Person falsche, eventuell zu grosse Schuhe. Und wenn ich am selben Abend zeichnete, indem ich mit den Füssen vom Boden abhob und mich in den Raum der Zeichnung hineindrehte, und die Bewegung dessen, was ich gesehen hatte, in rohen Linien und weichen Flächen wiederbelebte, mir anstatt einen Reim einen Rhythmus darauf machte, so ist vermutlich diese Zeichnung entstanden." (Ausst.-Kat. Ohne Titel, 1995)

Die Bewegung von Körpern, in Walking also geradezu expliziter Gegenstand, ist für Disler in seiner Arbeit immer zentral insofern, als er die künstlerische Praxis als „Rausch" begreift und immer darauf abzielt, sich im Zeichnen und Malen zu entäussern und physisch zu verausgaben, um so zu einer radikal eigenen, unmittelbaren Ausdrucksform jenseits von stereotypen Figurationen zu finden. Den disparaten Bewegungen des Bildes zu folgen ist auch eine körperliche Herausforderung für den Betrachter: Das grosse Format von Walking verlangt nach einer dezidierten physischen Aktivität des Rezipienten, der sich allerdings nicht einfach mit einem von links nach rechts abzuschreitenden und lesbaren Fries konfrontiert sieht, sondern mit einem exorbitanten dynamisch strukturierten Bildraum, geschaffen aus Linien und Flächen, die in alle Richtungen und über die Ränder des Papiers herauszuschiessen scheinen.

 

IF

 

 

 

Künstler
Martin Disler
Gattung
Malerei
Material
Fettkreide, Tusche, Acryl und Kohle auf Papier, auf Leinwand aufgezogen
Masse
151 x 400 cm
Standort
provisorisch Vordepot Ittigen
Inventarnummer
G 03.036
Credits
Schenkung 2003
Provenienz
Ankauf 1984 bei Galerie Elisabeth Kaufmann in Zürich.
Ausstellungsgeschichte

Literatur

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