Leben & Werk Miriam Cahn
Miriam Cahn
* 1949 in Basel
lebt und arbeitet im Bergell (GR)
Miriam Cahn besucht von 1968 bis 1973 die Grafikfachklasse der Kunstgewerbeschule Basel. Nach dieser Grundausbildung arbeitet sie bis 1976 als Zeichenlehrerin und wissenschaftliche Zeichnerin. 1977 hat sie ihre erste Einzelausstellung bei STAMPA in Basel, eine Galerie, die sie bis heute vertritt. Von Dezember 1979 bis Januar 1980 zeichnet sie nachts an den neu entstehenden Brückenpfeilern des Autobahndreiecks grossformatige Zeichnungen in Kohle, die Miriam Cahn mein frausein ist mein öffentlicher teil nennt. Seit den 80er Jahren bis heute folgen zahlreiche Ausstellungen, Stipendien und Auszeichnungen im In- und Ausland. Miriam Cahn wird an die documenta 7 in Kassel eingeladen, wobei sie kurz vor der Eröffnung ihre Arbeiten wieder abhängt, sowie an die 41. Biennale 1984 in Venedig. 1997 erhält Miriam Cahn den Karl-Ströher-Preis und 1998 den Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste.
Miriam Cahn schafft ein unverkennbares, eigenständiges, radikales und zugleich fragiles Oeuvre in den Medien Zeichnung, Malerei, Objekt, Installation und Performance, Video/Film wie auch mittels schriftlicher Ausdrucksweise (tagebuchartige Prosa). Ihre künstlerische Arbeit ist als Verarbeitung der eigenen Befindlichkeit, Thematik und Position als Frau und Mensch in ihrer Familie, in ihrem Umfeld, in dieser Gesellschaft, wie als Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten zu verstehen. Die Themen umkreisen Weiblichkeit, Sexualität, Liebe, Gewalt, Angst, Zorn, Faszination, Zerstörung. Seit den späten 1970er Jahren bis heute bildet Frausein im persönlichen wie gesellschaftlichen Kontext eine zentrale Bedeutung. Mit Cahns grundlegender Einstellung, dass Privates an die Öffentlichkeit gelangen muss und somit politisch ist, steht die Feministin in Einklang mit den feministischen Positionen ihrer Zeit, die Herrschaftsstrukturen in der zeitgenössischen Gesellschaft kritisiert und die Stellung der Frauen, die sich auch im privaten Bereich niederschlägt, zur öffentlichen Diskussion macht.
In ihrer frühen Arbeit an den öffentlichen Autobahnpfeilern der neu entstehenden Nordtangente in Basel zeichnet Cahn mit Kohle Flugzeuge, Rohre und Schiffe in elementar skizzenhafter Manier. Die subversive Handlung führte zu einer Befreiung. Diese Motive als persönliche Ikonographie werden auch in der Folgezeit ihr zeichnerisches Vokabular mitbestimmen, die sie künftig in männliche und weibliche Zeichen unterteilt. Zu ihnen gesellen sich der Wagen, das Haus, das Boot, die Schaukel, Tisch und Bett als weiblich verstandene Zeichen, Kriegsschiff, Raketensilo, Panzerwagen, Computerterminal und Bohrinsel, World Trade Center als männliche Zeichen. Immer wieder finden sich Darstellungen von menschlichen Antlitzen sowie der menschlichen Gestalt - von Frauen und Männern -, aber auch Tiere, Pflanzen und Landschaften.
Ihre Zeichnungen, die skizzen-, schemenhaft oder, wenn auch selten und kontrapunktisch, in naturalistisch anmutender Art auf Papier verschiedenster Grösse ihren Niederschlag finden, präsentiert die Künstlerin auf installative Weise direkt an der Wand. Oft sind es gesamte Räume und Raumfolgen, in denen sich die Zeichnungen ausbreiten. Diese sollen wie aufeinander folgende Worte, wie Texte, gelesen werden. Zuweilen werden die Zeicheninstallationen von weiteren Werken in unterschiedlichen Medien begleitet, wie Skulptur/Objekt, Video/ Film oder auch Malerei (auf Blatt, Karton oder Leinwand). Die Videoarbeiten dokumentieren zumeist eine Performance, bei welcher die Künstlerin den Schaffensprozess ihrer Zeichnungen oder Objekte festhält. Super-8 Filme aus den 80er Jahren präsentieren Naturansichten und Bewegungen von Tieren, Wasser, Pflanzen, Bäume, Wolken.
In der Zeichnung, die in den 80er Jahren gerade im Schweizer Umfeld einen Aufschwung erlebt, findet Miriam Cahn eine ureigene Ausdruckskraft im Unfertigen und Skizzenhaften, Flüchtigen, Unmittelbaren und somit Offenen als Absage zum Meisterwerk und Gegensatz zur Malerei, die von ihr zu dieser Zeit als männlich codiert bezeichnet wird. Zeichnung bedeutet für sie keineswegs Vorstufe zum fertigen Werk, sondern Bewegung, somit auch Bewegung des Körpers im Raum. Ihr Frausein widerspiegelt sich auch in ihrer Arbeitsweise: Cahns Arbeit im Rhythmus ihres Monatszyklus' lassen sogenannte Blutungs- und Eisprungarbeiten, aber auch Tag für Tag im Zyklus (1 weiblicher Monat) Zeichnungen entstehen, um aufgrund der Körpererfahrungen und -erinnerungen und in möglichst distanzlosem Eingebundensein inmitten des entstehenden Universums auf dem Boden liegend, kniend, kauernd, aus dem Körper heraus, oft auch mit geschlossenen Augen, ureigene Bilder zu schaffen und der Perfektion, dem traditionellen Ideal des schönen Werks zu entgehen. Lesen in Staub (L.I.S.) nennt die Künstlerin diese Schaffensweise, die aus zerriebener Kreide Werke entstehen lässt, wobei Bewegung und Performance, basierend auf ihrer eigenen Körpererfahrung und Körperarbeit, zentralen Stellenwert haben.
Nach einigen Jahren intensiver Zeichenarbeit im Schwarzweiss-Universum experimentiert die Künstlerin mit Farben: Rote, blaue und gelbe Aquarellfarben werden von Miriam Cahn auf aufgespannte, nasse Papierbahnen geschleudert. Sie werden von der Künstlerin „Atombombenbilder" genannt. Eine weitere Auseinandersetzung mit der damaligen politischen und ökologischen Situation - Schweizerhalle, Tschernobyl, der Golfkrieg im Irak, Sarajewo u.a. - sind Cahns kleinformatige, farbige Ölbilder auf Leinwand, die Industrieanlagen oder Produktionsstätten in farbiger Fassung in detailliert ausgeführtem Pinselduktus wiedergeben, wobei die Farben zu Bedeutungsträgern werden: Magentarot für aufbewahren, lagern, Cyanblau für Pflanzen, Schatten, und Gelb für giftig, tödlich, Vernichtung. Bei späteren Arbeiten, die sich mit Sarajewo beschäftigen, sind die Werke von einer neuen heftigen Farbigkeit geprägt, die symbolischen Charakter hat: Blau steht für die Frau, Rot für den Mann und Gelb für Gift.
Seit den 90er Jahren widmet sich Miriam Cahn vermehrt wieder der menschlichen Figur, aber auch Tieren und Naturdarstellungen. Im Gegensatz zu den früheren Arbeiten, die spannungsgeladene Energien der Künstlerin zum Ausdruck bringen, vollzieht sich ein Wechsel zu einer distanzierteren Darstellungsweise, gezeichnet von neuer Behutsamkeit. Diese Arbeiten werden nicht mehr vom Boden aus mit dem Körper geschaffen. Vielmehr sucht sie den zeichnend sich bewegenden und sehenden Körper in die Augen, in das obsessive Auge, zu verlagern. Die kleinen bis mittelgrossen Ölbilder zeigen Wesen, deren Sinne geschärft sind und die dem Betrachter schemen- und zugleich ikonenhaft entgegenblicken. Das farbig glühende Antlitz und der Blick werden in besonderem Masse betont. Leuchtende Landschaften strahlen geheimnisvoll aus sich heraus. Seit einigen Jahren finden sich ebenso Fotografien in Cahns Bilderkosmos, die, ähnlich wie in der Malerei, einen besonderen Blick (Anblick/Ausblick) im Alltag festhalten.
Die Anordnung der Werke in installativer Art oder als raumgreifende Installationen ist Teil des künstlerischen Prozesses. Die Bildabfolgen verlaufen in dichter Weise, sodass ein Überblick nur schwer möglich ist und die Betrachter Cahns Universum distanzlos ausgeliefert sind. Die Installation ihrer Werke ist eine Arbeit, die die Künstlerin selber auszuführen wünscht. Das geschriebene Wort der Künstlerin, das ihr gesamtes Kunstwollen begleitet und in ihren Publikationen zu finden ist, erzählt von eigenem Erleben und von Träumen, enthält aber auch Dokumente. In ihren Publikationen finden sich fast ausnahmslos nur eigene Texte, die zusammen mit ihren Werken eine Einheit bilden. Die Schriften liefern den Schlüssel zum Verständnis der Person Miriam Cahn, ihrer Schaffensprozesse wie auch ihrer Ikonographie.
Miriam Cahn geniesst mit ihrer unverkennbaren und kompromisslosen Zeichen- und Bildersprache seit den 1980er Jahren nationales und internationales Renommee. Ihre Werke finden sich in bedeutenden öffentlichen und privaten Sammlungen.
Esther Maria Jungo
Werke sortiert nach Titel ↑JahrGattung
Bild | Informationen | Beschreibung |
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Miriam Cahn frau oder mann, 4.7.951995 Öl auf Leinwand Masse 48,6 x 29,7 cm Malerei |
Die drei Leinwandgemälde aus den 1990er Jahren markieren eine Schaffensphase der Künstlerin, die bezüglich Träger und Technik als neue Herangehensweise zu verstehen ist. Ihrer prozessualen Arbeitsweise indes bleibt die Künstlerin treu, indem sie ihre Malerei beginnt, ohne zuvor eine genaue Richtung festzulegen, zuweilen nur mit einem imaginären Bild oder einer... [ Weiter ] |
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Miriam Cahn geologie, 16.10.96 (traum 8.10.96)1996 Öl auf Leinwand Masse 71,4 x 91,4 cm Malerei |
Die drei Leinwandgemälde aus den 1990er Jahren - tier, frau oder mann und geologie - markieren eine Schaffensphase der Künstlerin, die bezüglich Träger und Technik als neue Herangehensweise zu verstehen ist. Ihrer prozessualen Arbeitsweise indes... [ Weiter ] |
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Miriam Cahn L.I.S rechts und links, schlechter Tag (bl.arb), 30.9.871987 6 Blätter, Schwarze Schulkreide auf Papier Masse Installation: 650 x 180 cm Zeichnung |
Miriam Cahns Auffassung, dass man nur aus einer Betroffenheit heraus, wenn man wirklich individuell an Körper und Geist getroffen ist, in wirklich ehrlicher Weise in jenem Verfahren zu handeln beginnt, die an die eigene Person gebunden ist und aus ihr selbst entsteht, zeichnet die Serie L.I.S wörtlich Lesen im Staub aus. Dabei geht... [ Weiter ] |
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Miriam Cahn tier, 24.10.981998 Öl auf Leinwand Masse 26,3 x 21,7 cm Malerei |
Die drei Leinwandgemälde aus den 1990er Jahren markieren eine Schaffensphase der Künstlerin, die bezüglich Träger und Technik als neue Herangehensweise zu verstehen ist. Ihrer prozessualen Arbeitsweise indes bleibt die Künstlerin treu, indem sie ihre Malerei beginnt, ohne zuvor eine genaue Richtung festzulegen, zuweilen nur mit einem imaginären Bild oder einer... [ Weiter ] |