Leben & Werk Mauricio Dias & Walter Riedweg

Mauricio Dias
* 1964 in Rio de Janeiro

Walter Riedweg
* 1955 in Luzern
Arbeiten zusammen seit 1993 in Basel und schliesslich in Rio de Janeiro (Brasilien)

Mauricio de Mello Dias ist in Rio de Janeiro aufgewachsen und hat 1986 dort an der Universität den Bachelor of Fine Arts erworben. In Basel hat er von 1987 bis 1990 die Schule für Gestaltung absolviert.
Walter Stephan Riedweg absolviert in Luzern das Lehrerseminar und studiert an der Musikakademie Luzern, an der Scuola di Teatro Dimitri in Verscio sowie am Department of Performance Studies an der New York University (bei Richard Schechner). Dias und Riedweg lernen sich in Basel kennen.

Die erste gemeinsam entwickelte Arbeit des Künstlerpaars Devotionalia 1995 findet in der Schweiz sowie in Brasilien ein breiteres Publikum. Über längere Zeit hinweg haben die Künstler in 18 Favelas von Rio mit rund 600 Strassenkindern diskutiert, sie nach ihrem Leben und ihren Wünschen befragt und Wachsabgüsse von deren Händen und Füssen in der Tradition entsprechender Wachsobjekte (Ex voto) in den dortigen Kirchen geschaffen. Die Zusammenarbeit und die Vielzahl von Wachsfüssen und -händen werden auf verschiedenen Videobändern festgehalten und im Ausstellungskontext präsentiert. Gleichzeitig finden Workshops mit Schüler/innen der betreffenden Städte statt, die ebenfalls auf Video dokumentiert werden.

Mit Devotionalia formuliert das Künstlerpaar den Willen und die Notwendigkeit zu einer Neubestimmung der Rolle der Kunst in der Öffentlichkeit. New Genre Public Art ist die Kunstrichtung, die seit den 1990er Jahren als künstlerische Praxis verstärkt kommunikative, partizipative und somit vielfach auch prozesshafte Strategien in der Kunst verfolgt, zu der sich eine Vielzahl Projekte von Dias & Riedweg bekennen. Inhaltlich setzen sich die Vertreter der New Genre Public Art mit gesellschaftspolitischen Themen auseinander, wie Migration und Ausgrenzung. Die Künstler verstehen sich als Reisende - als Auswanderer, Einwanderer, Durchwanderer, Flüchtling -, die sich mit der Vielschichtigkeit und Komplexität eines neuen Umfeldes und des anderen Erlebnisbereiches auseinandersetzen. Aus dem Leben der Menschen heraus entwickelt sich die Bedeutung dieser Kunst, die wiederum Teil dieses Lebens wird, da sie aus realen Bezügen entstanden ist, die nicht selten im Alltag weitergetragen werden, geschätzt als Ergänzung eigener Aktivitäten und Notwendigkeiten. Eine entsprechende Vorgehensweise kann als Versuch einer Annäherung von Kunst & Leben verstanden werden. Erzählt wird indes nicht vom Leben, sondern von gewissen zentralen Dingen, die Leben ausmachen, wie Erfahrungen auf der Strasse, die Notwendigkeit, eine Gemeinschaft über Wasser zu halten, das Erlebnis ausgegrenzt zu werden und schuldig sein zu müssen, Hoffnungen ernst genommen zu werden mit all den damit verbundenen Wünschen und Ängsten; schlicht einfach eine Heimat zu haben.

Die lebendige, zwischenmenschliche Beziehung mit den Künstlern und den Subjekten, die zu Akteuren werden, bildet den roten Faden im Wissen, dass es nicht nur um das Individuelle geht, sondern ebenso um das Aufeinandertreffen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Kräfte. Das Intime und Private wird Teil des Öffentlichen und Sozialen in einer Geschichte, die jede und jeden von uns betrifft. Weitere Arbeiten, die denselben künstlerischen Ansatz verfolgen, sind Voracidad Máxima (Maximale Gier), die 2007 als Videoinstallation an der documenta 12 in Kassel präsentiert wurde: hinter den Masken der beiden Künstler finden sich männliche Sexarbeiter mit Migrationshintergrund aus dem Homosexuellenmilieu von Barcelona, die von ihren Erfahrungen mit Kunden erzählen und sich mit ihrer eigenen Geschichte und Herkunft auseinandersetzen. Ein weiteres Projekt, das sich mit Randgruppen unserer Gesellschaft beschäftigt, ist Question Marks 1996, das in Atlanta mit erwachsenen Häftlingen auf der einen und jugendlichen Häftlingen auf der anderen Seite realisiert wurde, die auf Initiative des Künstlerpaars an einem dreimonatigen Austausch teilnahmen.

Sie arbeiten mit fremdsprachigen Kindern von Gastarbeitern in der Schweiz (Shedhalle Zürich, Innendienst, im Rahmen der Ausstellung Aussendienst. Positionen zur postkolonialen Diskussion, 1995), mit Portiers, die an Eingängen von Wolkenkratzern in São Paulo arbeiten (Die Raimundos, Severinos und Franciscos, Biennale São Paulo, 1998), mit Venezianern, die sich zu ihrer Vorstellung vom eigenen Tod äussern (Tutti Veneziani anlässlich der Biennale von Venedig 1999), mit brasilianischen Nachfahren indianischer Ureinwohner, die einst in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts der Welt als Menschenfresser vorgeführt wurden, um dem Betrachter den Eindruck zu vermitteln, dass sie als feiernde Einwohner der Favelas bis heute als Wilde und Primitive in alten, rituellen Gebräuchen gefangen sind (Funk Staden, documenta 12), und jüngst mit humorvoll schildernden Einwohnerinnen einer Favela, in unmittelbarer Nähe des Museums für Moderne Kunst (MAM) in Salvador de Bahia, die tagtäglich, Jahr für Jahr für bescheidenes Entgelt die Wäsche der begüterten Klassen der Stadt von Hand waschen und damit die gesamte Favela ernähren (Agua de Chuva no Mar, 2012). Den oft unterprivilegierten Protagonist/innen von Dias & Riedweg sollen dabei die Türen zur Kunst und in die kulturellen Institutionen ebenso geöffnet werden wie den Interessierten aus dem Kulturbereich und Bildungsbürgertum. In einer umfassenden Arbeit Deus é Boca 2002 vereint das Künstlerpaar die Medien Video und performatives Theater, das Tag für Tag aufgeführt wird und sich gleichermassen 44 verschiedenen Definitionen des Göttlichen widmet, die vom Mund und im Diskurs formuliert werden und somit gleichermassen das Göttliche wie das Abgründige des Menschen thematisiert.

 

Mauricio Dias & Walter Riedweg haben an verschiedenen international bedeutenden Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst teilgenommen, wie die Biennale in Venedig 1999, die documenta 12 in Kassel 2007, die Biennalen in Havanna 2003, Mercosul 2003, Liverpool 2004, Shanghai 2004. Gwangju 2006, Teneriffa 2009 und São Paulo 1998, 2000. Einzelausstellungen finden in international renommierten Museen statt. Eine erste Einzelausstellung im Kunstmuseum Luzern unter dem Titel Kleine Geschichten von Bescheidenheit und Zweifel erfolgt im Jahr 2014 (Kat.).

Esther Maria Jungo

 

Werke sortiert nach TitelJahr ↑Gattung

Bild Informationen Beschreibung

Mauricio Dias & Walter Riedweg

Mustafa's Feast

1999

Video (VHS, PAL G ), Farbe, mit Ton

Masse Dauer: 2'50'' (Loop 30')

Video

Die Arbeitsweise des Künstlerpaars Dias & Riedweg, elementare Begegnungen mit Menschen zu suchen und die gemeinsamen Erlebnisse und Ergebnisse in einer Form von kulturellem Ausdruck symbolhaft darzustellen, um dabei an die Beschränkungen zwischen Hier und Dort zu rühren, zeichnet auch das Video Mustafa's Feast aus. Das Fest des vierjährigen... [ Weiter ]