Ohne Titel, 1983

Ohne Titel, 1983, Josef Felix Müller

Ohne Titel ist eine der frühesten Arbeiten, die Josef Felix Müller nach seiner Hinwendung zur Holzskulptur Anfangs der 1980er Jahre schuf. Wie schon in seiner vorangehenden Malerei, steht auch in seinen Skulpturen die menschliche Figur im Zentrum. Die Hinwendung zum Körper gründet auf der Loslösung von der „intellektuellen" Kunst wie sie etwa von der Konzeptkunst vertreten wurde. Ohne Titel nimmt diesbezüglich eine Sonderstellung ein; Als eine der wenigen Skulpturen zeigt sie (noch) keinen Körper, der - trotz häufiger Verstümmelung - als ein menschliches Abbild erkennbar ist. Müllers später immer wiederkehrendes Thema der Fragmentierung erfährt hier bereits seine radikalste Umsetzung. In einem für Müller ungewohnten Abstraktionsgrad lassen sich Hände sowie Andeutungen von weiblichen und männlichen Geschlechtsteilen ausmachen. Aus einer mit roter Farbe getränkten Vagina scheint ein phallusartiger Stamm emporzusteigen, wobei nicht deutlich wird, ob es sich hier um eine Gewalttat oder um eine erotische Vereinigung handelt. Auch die Funktion der Hände ist schwer einzuordnen. Parasitär haften sie dem Phallus an - aber greifen sie ein oder liebkosen sie? Gehören sie aufgrund der gleichen Bemalung zum weiblichen Geschlecht oder nicht? Diese Ambivalenz der Wahrnehmung spiegelt sich in der Materialität der Skulptur Die Oberflächenstruktur ist wie bei allen frühen Holzskulpturen ungeschliffen, durch den Farbauftrag grob versiegelt. Sie erweckt den Eindruck des Unsanften und entsprechend Unempfindlichen. An der haptischen Beschaffenheit aber ist gleichzeitig ein sinnlicher Umgang des Künstlers mit dem Material erkennbar, was hier nichts anderes heissen soll, als dass Müller den Sinn fürs Material besitzt. Die zugegeben grobe Arbeitstechnik mit Kreissäge und in einem weiteren Schritt mit Meissel erlaubt ihm, die Beschaffenheit des Holzes zu erfahren, zu fühlen, bei welchem Schnitt es besser nachgibt, in welche Richtung die Fasern verlaufen. Das Zerstörerische offenbart hier sein ebenso schöpferisches Potential. Dieses Pendeln zwischen Gewaltakt und Liebkosung findet in Ohne Titel seine inhaltliche Entsprechung. Übertragen auf das Geschlechterverhältnis bedeutet es, dass selbst eine aktiv gelebte Gleichstellung immer wieder mit dem Kippmoment von gegenseitigem Kräftemessen, von Machtkämpfen und Abhängigkeiten konfrontiert wird. Die Schwierigkeit liegt hierbei nicht in einem generellen Unvermögen, sondern in der Überwindung der ständigen Abgrenzung des jeweils Anderen, die gleichgestelltes Leben nicht unterstützt, sondern verhindert. Gut möglich, dass Müller für Ohne Titel einen hohen Abstraktionsgrad wählt, um eine eindeutige Zuordnung und Differenzierung der einzelnen Körperteile bewusst zu verunmöglichen: „Die Vision aber liegt in der Ganzheit, (...) dem androgynen Wesen. Felix' Traum von einem neutralen Geschlecht." (Zit. Andrea Hofmann)


Sarah Merten / SMe

in: Ausst.kat. Kunstmuseum Bern, 2013. Das schwache Geschlecht - Neue Mannsbilder in der Kunst. Kunstmuseum Bern, 18.-10.2013-9-2-2014. Hrsg. Kunstmuseum Bern, S. 139-141

 

Künstler
Josef Felix Müller
Gattung
Skulptur
Material
Kanadische Pappel, bemalt
Masse
181 x 54 x 88 cm
Standort
316
Inventarnummer
Pl 03.020
Credits
Schenkung Stiftung Kunst Heute, 2003
Provenienz
Galerie Corinne Hummel, Basel, 1983
Ausstellungsgeschichte

Literatur

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